Leseprobe aus SCHATTENGOLD

In SCHATTENGOLD, meiner düster-atmosphärischen Neuerzählung des Märchens „Rumpelstilzchen“ entführe ich euch in ein Königreich voller finsterer Feenwesen und Dämonen. Furchteinflößend, schauerlich und wunderschön zugleich.

Hier könnt ihr einen Ausschnitt aus dem Anfang des Romans lesen:

Kapitel 1: Schatten auf dem Wasser

Der Geist meiner Mutter lebte an einem kleinen Weiher mitten im Firnwald, direkt an der Grenze zum Feenreich. Im Schutz der Trauerweiden, die das Wasser am nördlichen Ufer säumten, hatte mein Vater sie vor vielen Jahren bestattet. Seither war er kein einziges Mal hierher zurückgekehrt.

Berit hatte mir den Weg gezeigt, widerwillig zunächst, weil das Betreten des Firnwalds verboten war. Erst nach langem Betteln und Flehen, nach vielen Tränen und nach der Drohung, ich würde mich auf eigene Faust auf die Suche machen, hatte ich sie überzeugen können, mich zu dem versteckt gelegenen Seerosenweiher zu führen. Im Gegenzug hatte ich versprechen müssen, vorsichtig zu sein, nie zu lange zu bleiben und niemals nachts den Weiher zu besuchen, denn das war die Zeit der Feen. Und nichts, was die Wälder durchstreifte, kein Wolf, kein Wildschwein und kein Bär, war so gefährlich wie ein Feenwesen – egal, ob es sich dabei um einen Angehörigen des Dunklen Volkes handelte oder des Lichten. Niemals hatte ich bisher eines dieser Versprechen gebrochen.

Berit kümmerte sich seit dem Tod meiner Mutter um mich, sie hatte mir beigebracht, wie man kochte, stickte und nähte und welche Pilze, Beeren und Kräuter genießbar waren. Sie hatte mir Geschichten erzählt, mich gelehrt, wie man sich vor Feenwesen schützte, und meine Tränen getrocknet, wenn ich wieder einmal vor Vater aus der Mühle geflüchtet war.

Ich liebte Berit, die schon meine Mutter großgezogen hatte, doch ich fragte mich oft, wie mein Leben wohl verlaufen wäre, wenn Mutter nicht so früh von uns gegangen wäre. Ich vermisste eine Frau, an die ich mich kaum erinnern konnte. Einzig ihr eigentümlicher Geruch nach süßem Geißblatt und würzig-herbem Wacholder hatte sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Vielleicht zogen mich deshalb der kleine Seerosenweiher und das alte Grab magisch an. Hier fühlte ich mich meiner Mutter nah, vor allem in den frühsommerlichen Abendstunden, wenn der Wind die Blüten des Weißdorns wie Schneeflocken über das Wasser wirbelte und die purpurfarbenen Geißblattblüten ihren schweren Geruch verströmten.

Wenn ich dann die Augen schloss und mein Gesicht dem Abendhimmel entgegenstreckte, fühlte es sich so an, als würde sie mir sanft mit den Fingerkuppen über die Wangen streicheln. Dann erlaubte ich es mir, für eine Weile nicht an die Arbeit in der Mühle zu denken, an die Trunksucht meines Vaters oder an die Sorgen, die ich mir um meinen kleinen Bruder Thomas machte. Diese Zeit gehörte nur mir, Farah, und wenn ich dann trotz Berits Warnungen heimlich davon träumte, einem vom Lichten Volk zu begegnen, was machte das schon?

Und dann waren da noch die kleinen Goldmünzen, von denen ich je eine am Tag vor jedem Neumond fand - auf dem flechtenüberwucherten Stein in der Nähe von Mutters Grab.

Dutzende dieser schimmernden Münzen hatte ich in den letzten Jahren dort aufgelesen und ich hütete diesen kleinen Schatz wie meinen Augapfel. Ich erzählte niemandem davon. Berit hätte mich geschimpft und gewarnt, dass er sicher das Geschenk eines Feenwesens war und ich eines Tages den Preis dafür würde zahlen müssen. Thomas hätte mich dazu überredet, die Münzen zusammen mit ein paar Vorräten in einen Lederbeutel zu packen und mit ihm zu verschwinden. Und unser Vater hätte das Geld sicher im Wirtshaus versoffen.

Ich wusste nicht, was ich mit den Münzen machen sollte, aber ich war mir sicher, dass ich sie eines Tages brauchen würde. Vor den Feen und ihren undurchsichtigen Spielen hatte ich keine Angst. Ich glaubte nicht, dass die goldglänzenden Geldstücke von einer dieser Kreaturen stammten – sondern von meiner Mutter, die auch all die Jahre nach ihrem Tod noch ihre schützende Hand über mich hielt.

Wie recht ich damit hatte. Und wie schrecklich ich mich doch gleichzeitig irrte.

 

»Heute ist ein guter Tag«, erzählte ich Mutter, als ich mich unter den tiefhängenden Ästen der Trauerweide auf einem weichen Kissen aus Moos niederließ. Ich berührte vorsichtig den Boden, unter dem sie beerdigt lag. Seltsamerweise wuchs nur Gras an dieser Stelle, kein anderes Pflänzchen, und das, obwohl um die Grabstätte herum zahlreiche Blumen wucherten: Schwertlilien und Schneerauten, Rittersporn und Sonnenhut. Zwischen den Weidenwurzeln streckten Ringelblumen ihre leuchtenden Köpfchen aus der Erde. Mutter brauchte keine Schnittblumen, die ohnehin bald welk würden. Stattdessen brachte ich ihr Neuigkeiten.

»Gestern habe ich den ersten Kopfsalat des Jahres geerntet. Mira hat uns endlich das Geld für den Wollschal vorbeigebracht, den ich ihr im letzten Herbst verkauft habe. Und Vater und Thomas haben sich heute noch kein einziges Mal gestritten.«

Bisher zumindest. Die Sonne stand noch hoch und in den zurückliegenden Wochen war kaum ein Tag vergangen, an dem mein Vater und mein Bruder nicht aneinandergeraten waren. Mit Vater umzugehen war nicht leicht, aber ich musste zugeben, dass Thomas in der letzten Zeit ebenso verantwortlich war für das angespannte Verhältnis zwischen den beiden. Mein sonst so friedliebender Bruder fuhr bei der geringsten Kleinigkeit aus der Haut.

»Ich wünschte, Vater wüsste, weshalb Thomas das Herz so schwer ist«, gestand ich Mutter leise. »Aber es liegt an ihm, sein Geheimnis zu teilen, nicht an mir.«

Der Duft von Wacholder und – obwohl es dafür eigentlich noch zu früh am Tag war – Geißblattblüten stieg mir in die Nase. Ich blickte hinüber zu dem Vorhang aus Weidenzweigen, die sanft in einer unsichtbaren Brise hin und her schwangen. Doch die geheimnisvolle Nebelgestalt, die manchmal im Schatten der Bäume auftauchte, zeigte sich nicht. Einzig Mutters Duft hüllte mich ein wie ein schützender Schleier.

Ich lächelte und berührte das silberne Medaillon mit ihrem Bild, das ich an einer Kette um den Hals trug. Das Schmuckstück und der Ring an meinem Finger hatten ihr gehört, und neben meinen Erinnerungen waren sie alles, was mir von ihr geblieben war. Warum sich ihr Geist manchmal zeigte, meist jedoch unsichtbar blieb, wusste ich nicht. Sie sprach auch nie mit mir, sondern lauschte nur meinen Sorgen und Nöten und hütete meine Geheimnisse, die großen und die kleinen. Auch Thomas‘ Geheimnis hatte ich ihr flüsternd anvertraut. Weil es niemanden gab, mit dem ich sonst darüber reden konnte, ich hatte es ihm versprochen. Doch eines Tages war die Last für mich zu groß geworden, um sie allein zu tragen.

Meine tote Mutter war eine gute Zuhörerin.

»Er wird darüber hinwegkommen.« Wie mit den Zacken eines Kamms fuhr ich mit den Fingern durch das kräftig grün leuchtende Gras. »Mit der Zeit.« Jedenfalls hoffte ich das. »Er wird jemanden finden, der ihn aufrichtig liebt, nicht wahr?«

Die Weidenblätter in den Baumkronen begannen miteinander zu wispern. Falls sie mir allerdings etwas sagen wollten, so verstand ich ihre Sprache nicht.

Das war vielleicht auch gar nicht nötig. Meine Hände kribbelten vor Aufregung, als ich den Leinenbeutel, den ich über der Schulter trug, fester an mich drückte.

Schafgarbe und Bilsenkraut? Berit hatte mich mit hochgezogener Augenbraue skeptisch gemustert, als ich sie gestern um die Pflanzen gebeten hatten. Du wirst doch keine Dummheiten machen?

Nein, hatte ich ihr versichert und sie daran erinnert, dass sie sich auf mich verlassen konnte.

Mit einem Zungenschnalzen hatte sie mir die getrockneten Pflanzen schließlich ausgehändigt. Du bist alt genug, um deine eigenen Entscheidungen zu treffen, hatte sie gesagt und ich sie daraufhin fest umarmt, dankbar dafür, dass sie mir half – und keine weiteren Fragen stellte.

»Die Schafgarbe und das Bilsenkraut sind nicht für mich«, erklärte ich Mutter. »Sie sind für Thomas.«

Jedenfalls redete ich mir das ein. Mir war die Liebe egal. Ich konnte der Mühle ohnehin nicht den Rücken kehren und schon gar nicht Vater. Er würde niemals ohne mich zurechtkommen und mir machte es nichts aus, unverheiratet zu bleiben. Berit war das beste Beispiel dafür, dass ein Leben ohne Mann nicht das schlechteste Los war, das einen treffen konnte.

Entschlossen rappelte ich mich auf, richtete Kleid und Stoffbeutel und teilte die Weidenzweige mit den Händen, um zwischen ihnen hindurch zurück auf die Lichtung zu schlüpfen. Es war Zeit für einen kleinen Zauber.

 

Der Stein mit der Münze befand sich auf halber Strecke zwischen den Bäumen und dem Wasser. Es handelte sich um einen flachen Block aus hellgrauem Schiefer, der zum Großteil von senfgelben Flechten bedeckt war. Sie klammerten sich so verzweifelt an ihn, dass ich immer, wenn mein Blick auf sie fiel, das Gefühl hatte, sie würden den Stein vor meinen Augen zu sich ins Erdreich ziehen. Genau in seiner Mitte, an einer Stelle, die völlig frei von Schmutz und Flechten war, lag auch heute eine kleine Münze. Sie war winzig, kaum größer als der Nagel meines Ringfingers, und wenn das Sonnenlicht auf sie fiel, strahlte sie wie ein königlicher Schatz.

»Danke, Mama«, flüsterte ich und drehte den Kopf, um eine Kusshand zurück zu ihrem Grab zu werfen. Dann stecke ich die Münze in eine der Taschen meines Kleides, die von den Falten des Stoffes verborgen wurden, und trat ans Ufer. Die wenigen Stellen des Weihers, die nicht von einem üppigen Seerosenteppich vereinnahmt wurden, glitzerten in der Sonne. Über dem Wasser, von Blütenkelch zu Blütenkelch, schwirrten Libellen und die Luft war erfüllt vom süßen Blumenduft, dem Gezwitscher der Waldvögel und dem geschäftigen Rascheln in den Büschen und Bäumen um mich herum.

Mit jedem Atemzug fiel der Druck auf meinen Schultern etwas mehr ab, fast wie der Mehlstaub, den ich mir vor meinem Aufbruch aus der Schürze geschüttelt hatte.

Unzählige Stunden hatte ich bereits auf dieser Lichtung verbracht, sommers wie winters. Manchmal las ich in einem Buch, manchmal beobachtete ich die Tiere oder das Spiel der Sonnenstrahlen auf dem Wasser. Und manchmal verhielt ich mich ganz still, so als sei ich eine Statue, um nach Feenwesen Ausschau zu halten. Berit gegenüber hätte ich das niemals zugegeben. Ebenso wenig wie ich vorhatte, ihr zu erzählen, was ich heute plante.

Ich kniete mich an eine Stelle, an der keine Rohrkolben und Sträucher, sondern nur Gräser und orangerote Flammenblumen das Ufer bewuchsen. Der Weiher war nicht tief. Kleine Fische huschten darin umher, und im Schilf zu meiner rechten hörte ich Frösche quaken. Im Licht der späten Nachmittagssonne und aufgrund der vielen Pflanzen, die auf seinem Grund wuchsen, wirkte das Wasser goldgrün. Selbst meine blonden Haare bekamen in der Spiegelung auf der Oberfläche einen Stich, als sei ich kein Mensch, sondern eine Wasserfee. Kurz lächelte ich. In den Seerosenteppich in der Mitte des Weihers kam Bewegung. Ihre fleischigen Blätter rieben raschelnd aneinander, ein Frosch, der es sich auf einem besonders großen Blatt gemütlich gemacht hatte, sprang hektisch davon. Auch die Libellen stiegen mit surrenden Flügeln in die Luft auf. Mein Körper spannte sich an. Etwas Gelbes blitzte zwischen den Pflanzen auf, dann stieß der Kopf einer Natter aus den Seerosen hervor. Erschrocken stolperte ich einen Schritt zurück. Die gekielten Schuppen des Tieres glitzerten im Sonnenlicht. Mit wendigen Bewegungen schlängelte es sich blitzschnell über die Teichoberfläche und verschwand am gegenüberliegenden Ufer. Ich entspannte mich und schmunzelte über mich selbst. Keine Nixe zwischen den Seerosen also. Und die meisten Ringelnattern im Firnwald waren nicht giftig. Diese hier war harmlos gewesen.

Vorsichtig griff nach den Dingen, die ich eigens für den Zauber mitgebracht hatte: die getrockneten Pflanzen, aber auch einen Kanten Brot, Holundersaft und ein graues Stück Leinen, das bis vor kurzem zu einem Hemd meines Bruders gehört hatte. Ich hatte es an mich genommen, um einen Riss zu nähen, zu meinem Bedauern allerdings festgestellt, dass ich es bereits zu oft geflickt hatte. Es war besser gewesen, die Nahtstellen aufzutrennen und Teile des Stoffes für ein neues Hemd zu verwenden. Ein Stück jedoch, das vom vielen Tragen ganz dünn geworden waren, hatte ich aussortiert. Es lag nun in meiner Hand, nicht größer als ein Gebetsbuch. Mit blaugrau gefärbtem Faden hatte ich seine Ränder sorgfältig vernäht, damit sie nicht ausfransten. Für meine Zwecke war es bestens geeignet.

Zunächst legte ich es jedoch zur Seite und zerrieb sowohl die Schafgarbe als auch das Bilsenkraut zwischen meinen Handflächen. In kleinen Krümeln ließ ich sie in den Weiher regnen, anschließend warf ich ein paar Brotkrumen hinterher. Zuletzt entkorkte ich das Gefäß mit dem Holundersirup, griff nach dem Stofftuch und träufelte einige Tropfen darauf.

Über zwei Jahre hatte Thomas das Hemd getragen, von dem der Fetzen in meiner Hand stammte. Der Stoff war mit ihm verbunden. Als würde ich eine Tischdecke ausbreiten, ließ ich ihn den Kräuterbröseln hinterher auf die Wasseroberfläche segeln. Ein, zwei Herzschläge lang schwamm er darauf, dann färbte er sich dunkelgrau und begann, gemächlich im goldgrünen Nass zu versinken.

Es war so weit.

Meine Haut prickelte vor Anspannung, als ich mich vorbeugte und auf die Wasseroberfläche hauchte.

»Zeigt es mir«, flüsterte ich. »Zeigt mir den Menschen, der das Herz meines Bruders zu heilen vermag.«

Ich hatte Thomas nicht verraten, was ich heute vorhatte. Er war am Boden zerstört, seit Alois, der Schuster, uns erzählt hatte, dass die schöne Gerhild vom Eichenhof noch vor dem Herbst seinen Neffen Martin heiraten würde. Thomas war der Kornsack aus den Händen geglitten, doch Vater hatte nicht begriffen, was ihn so erschreckte. Er hatte ihn nur angeherrscht, besser aufzupassen. Und Thomas hatte gehorcht, mühsam gegen die Tränen ankämpfend, die in ihm aufzusteigen drohten. Er hatte mir so leidgetan. Auch für mich war die Vermählung von Martin und Gerhild eine Neuigkeit gewesen. Sie hatte mich jedoch weniger aus der Fassung gebracht als Thomas. Beide – sowohl Martin als auch Gerhild – galten als gute Partien. Geld kommt zu Geld, pflegte Vater zu sagen, und er musste es wissen, denn wir hatten meist keines.

»Du hast dir doch keine Hoffnungen gemacht?«, fragte ich Thomas leise am Abend, als er mir beim Abspülen half.

»Nein«, hatte mein Bruder knapp geantwortet.

Ich wusste, dass das eine Lüge war. Vielleicht hatte Thomas es besser gewusst, aber er hatte gehofft, dass sah ich ihm an. Er hatte gehofft, dass Martin sich gegen seine Familie und gegen Gerhild entscheiden würde und stattdessen für den Jungen, mit dem er seit dem vergangenen Winter heimlich Küsse austauschte. Aber dazu fehlte Martin offensichtlich der Mut, und den fand er schon gar nicht für einen armen Schlucker, wie es ein Mitglied unserer Müllersfamilie war.

»Alles wird gut«, hatte ich Thomas vor dem Zubettgehen versprochen. »Du wirst einen anderen finden. Einen, der es ernst mit dir meint, dem das Getuschel der Nachbarn egal ist.«

Mein Bruder hatte mich lange angeschaut. »Und wer soll das sein?  Wie viele Jungen gibt es in unserem Dorf, die so sind wie ich, was glaubst du?«

»Ich …«

»Lass gut sein, Farah. Es ist, wie es ist. Wie kann ich Martin Vorwürfe machen, wenn ich es selbst nicht über mich bringe, jemandem von meinem Geheimnis zu erzählen?« Dann hatte sich ein trauriges Lächeln auf seine Züge gestohlen. »Außer dir natürlich.«

Wir hatten einander fest umarmt und endlich hatte mein kleiner Bruder ein bisschen geweint, ganz so wie in unserer Kindheit, wenn er sich das Knie aufgeschlagen oder allzu sehr erschreckt hatte. Ich war glücklich darüber, dass er mir vertraute. Ich hingegen brachte es bis heute nicht über mich, ihm von Mutters Grab und ihrem Geist zu erzählen. Ich wusste, dass ich das Gesetz brach, wenn ich den Firnwald betrat, und ich wollte nicht, dass Thomas sich in ebensolche Gefahr begab. Mein Leben lang hatte ich ihn beschützt, ich wünschte mir nur, dass er glücklich wurde, und deshalb war ich dazu bereit, mich an einem Zauber zu versuchen.

Ich hoffte so sehr, im goldenen Wasser des Weihers einen Blick auf etwas zu erhaschen, was ihm seine Zuversicht zurückgeben würde. Falls es misslang, musste ich ihm ja nichts von dem Ritual verraten.

»Zeigt mir den Menschen, der das Herz meines Bruders zu heilen vermag«, bat ich noch einmal und hoffte, dass die guten Geister des Waldes meine Bitte erhörten.

Wind kam auf und das Wispern der Baumkronen schwoll zu einem Rauschen an. Mit angehaltenem Atem beobachtete ich, wie mein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche zunächst verschwamm und sich dann neu zusammensetzte.

Nur, dass mir nun nicht mehr mein eigenes Gesicht entgegenblickte, sondern das eines jungen Mannes; nein, die Gesichter zweier Männer.

Einer von ihnen war noch ein halber Junge. Er sah fremd aus. Selbst im grünstichigen Wasser erkannte ich, dass seine Haut dunkel war, viel brauner, als dass dafür ein Sommer im Freien verantwortlich sein konnte.

Er stammt nicht von hier, dachte ich. Der Junge hatte feingeschnittene Züge und wunderschöne Wimpern, so dicht, wie ich mir die meinen auch wünschte. Er erinnerte entfernt an meine Freundin Giulietta, deren Mutter aus Zestásia stammte und die ihrer Tochter die dunkelbraune Haut vererbt hatte. Als sich die Lippen des Jungen zu einem Grinsen verzogen, begann sein ganzes Gesicht zu strahlen. Wie alt mochte er sein? Sechzehn Jahre? Siebzehn?

War er es, der das gebrochene Herz meines Bruders heilen konnte?

Doch die andere Person im Wasser war nicht mein Bruder, sie war auch kein Junge mehr, sondern ein Mann. Er besaß helle Haut, blasser noch als die meine. Ich schätzte ihn auf Anfang zwanzig. Das Haar trug er ungewöhnlich kurz und die Hälfte seines Gesichts bedeckte ein dichter Bart. Doch seine Augen blickten freundlich. Gleichzeitig lag eine Autorität in ihnen, die mich beeindruckte. Als ich mich tiefer beugte, um mehr zu erkennen, fiel ein Weidenblatt direkt vor mir in den Weiher. Die winzigen Wellenbewegungen, die es auslöste, genügten, um das Bild verschwimmen zu lassen.

»Nein!«

Ich hatte nur diese eine Chance, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Doch das, was mir das Spiegelbild im Wasser gezeigt hatte, war nicht genug gewesen.

Die Oberfläche des Weihers beruhigte sich. Rund um das schwimmende Weidenblatt baute sich die Vision wieder auf, den guten Geistern des Waldes sei Dank!

Die verschwommenen Farbflecke, die das Wasser reflektierte, setzten sich erneut zu einem Gesicht zusammen. Schon konnte ich ein eisblaues Auge erkennen. Mein Nacken begann zu prickeln und die Härchen auf meinen Armen richteten sich auf. Der Hautton im Wasser … das war nicht richtig. Und die Züge des Gesichts, das sich zusammensetzte, es war keines der beiden, die sich mir zuvor offenbart hatten.

Sie gehörten gar keinem Menschen!

Mein Atem beschleunigte sich, als ich das Zerrbild dabei beobachtete, wie sich seine Konturen mehr und mehr in die Länge zogen, bis sie kaum noch etwas Natürliches an sich hatten.

Dieses Gesicht, durchfuhr es mich siedend heiß, gehört einem Feenwesen.

Und sicher keinem Angehörigen des Lichten Volkes.

Die Augen saßen tief in den Höhlen, der haarlose Schädel glänzte wie der Rücken eines Insekts.

Warum zeigte mir der Zauber dieses Gesicht?

Was war mit den beiden jungen Männern, deren Ebenbilder vorher auf den Wellen geschaukelt hatten? Sicher würde Thomas sich nicht ...

Um diesen Einfall nicht zu Ende zu denken, griff ich nach vorne. Ich wollte das Wasser aufwirbeln und das Abbild des Monsters vertreiben, das jetzt, wo ich mich weit über das Ufer beugte, mit meinem eigenen Spiegelbild in einer grotesken Metamorphose verschmolz. Das Prickeln in meinem Nacken wurde stärker. Als meine Finger die Oberfläche des Weihers berührten, knackte es direkt hinter mir, als sei jemand auf einen Zweig getreten.

Gänsehaut überzog meinen ganzen Körper. War ein Tier durch die Weißdornsträucher auf die Lichtung gestolpert und hatte sich angeschlichen? Ich wünschte es mir so sehr. Unendlich langsam, um den oder das, was hinter mir stand, nicht zu erschrecken, tastete ich mit den Fingern nach meinem Kräutermesser. Ich trug es immer bei mir, wenn ich den Wald betrat, es war mit einer Schlaufe am Gürtel befestigt.

Bitte, sei einfach ein Reh, flehte ich in Gedanken.

Da vollendete sich das Bild. Auf dem spiegelnden Wasser sah ich meine Lippen, fest zusammengepresst, meine Augen, viel zu weit aufgerissen – und eine alptraumartige Fratze mit blauschwarzer Haut, die mir über die Schulter blickte.

Eine Eisenfaust griff nach meinem Herzen und presste es zusammen. Ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte, also schrie ich. Ich schrie, als seien Dämonen hinter mir her. Und vielleicht waren sie das auch.

Wie aus weiter Ferne hörte ich die Vögel in den Ästen über mir aufsteigen und in meinen Schrei mit einstimmen.

»Ruhe!«, befahl eine fremde Stimme – die Stimme des Monsters. Sie erinnerte an das Kratzen von Fingernägeln über Stein, vermischt mit dem Rascheln welken Laubes. Das Kreischen der Vögel verstummte; der Wald um mich herum hielt den Atem an. Meine Hand fand das Messer. Meine Finger zitterten jedoch so stark, dass ich es nicht vom Gürtel bekam. Erst nach zwei weiteren Herzschlägen, begriff ich, dass auch ich verstummt war.

Trotzdem erfüllte mich unbändige Angst und ich fuhr zu dem Wesen herum. All die Warnungen von Berit fielen mir wieder ein.

Hüte dich vor den Feen.

Lass nicht zu, dass sie dich verzaubern.

Eine einzige Berührung von ihnen kann dich drei Dutzend Jahre deines Lebens kosten.

O ja, Berit hatte mich gewarnt.

Schütze dich mit einem Kranz aus Johanniskraut vor ihnen.

Oder mit Bernsteinwachs. Und ich hatte mir noch nicht einmal ein rotes Band in meine Haare gebunden. Entschlossen umfasste ich den Holzgriff des Messers fester, da endlich löste es sich und glitt in meine Hand.

In den alten Geschichten glichen die Angehörigen des Lichten Volkes wunderschönen Prinzen und Prinzessinnen. Sie trugen Kleider aus Spinnenseide oder Blütenblättern und Schmuck aus Tau und Sternenlicht. In einigen Erzählungen waren sie winzig klein und ritten auf Libellen oder Kröten. Ihre Waffen schnitzten sie aus Holzspänen oder schmiedeten sie aus Golddraht.

Hatte ich mein eigenes Unglück über mich gebracht, als ich mir wieder und wieder gewünscht hatte, ich möge ihnen eines Tages begegnen?

Nie hatte ich mich danach gesehnt, einem vom Dunklen Volk über den Weg zu laufen! Das Lichte Volk galt schon als unberechenbar. Sein boshafter Widerpart, so erzählten sich die Dorffrauen, war so verschlagen und grausam, wie es hässlich war.

Und jetzt stand mir eines dieser Wesen gegenüber.

Sein Kopf war so hager, dass es aussah, als hätte man pergamentdünnes, dunkelblaues Leder mit aller Kraft auf einen Totenschädel gespannt. Die Kreatur beobachtete mich aus unergründlichen Augen, in denen ein eisiges Feuer glomm. Ihre gefletschten Zähne waren die eines Raubtiers. Sie leuchteten schneeweiß im dunkelblauen Gesicht.

Das war es jedoch nicht, was mich mehr als alles andere schreckte. Es war der Unterleib der Kreatur, bei deren Anblick sich mir der Magen umdrehte.

Die Beine waren so spindeldürr, dass sie eigentlich unter dem Gewicht des gewaltigen Rumpfes hätten zusammenbrechen müssen – wären es nur zwei, und nicht sechs, die ihn trugen. Von Kopf über Schultern und Arme bis hin zum Bauch ähnelte das Wesen einem Menschen. Von der Hüfte an abwärts besaß es jedoch einen bierfassgroßen Spinnenleib.

Ist es gekommen, um mich zu fressen?

Aber es stand nur da und beobachtete mich mit seinen Eisaugen.

»Was suchst du hier?«, zwang ich mich schließlich zu fragen und umklammerte das Messer in der einen, das Medaillon meiner Mutter wie einen Talisman mit der anderen Hand.

Lass dich niemals auf einen Handel mit den Feen ein, klang mir Berits Stimme im Ohr. Der Preis, den sie für ihre Hilfe verlangen, ist immer zu hoch.

»Du willst wissen, was die Zukunft bringt«, antwortete mir die Kreatur mit ihrer schabenden Stimme.

»Jetzt nicht mehr.« Ich wollte nur noch, dass das Ding vor mir verschwand. Der Spinnenmann schüttelte den Kopf. Sehnen bewegten sich unter seiner Haut und knackten. Das schreckliche Geräusch verursachte ich mir eine solche Übelkeit, dass ich mich übergeben wollte.

»Du hast Bilsenkraut und Schafgarbe ins Wasser gestreut. Das sind keine Kinderspiele.« Schwankend kam das Wesen näher. Vielleicht lag das daran, dass er nicht acht Beine wie eine richtige Spinne besaß, sondern nur sechs. Sechs knöchrige Gliedmaßen, die es auf mich zutrugen.

Ich jedoch konnte nicht weiter zurückweichen, ohne im Weiher zu landen.

Mehr Mut vortäuschend als ich wirklich verspürte, hob ich das Messer. »Bleib, wo du bist!«

Meine Hand zitterte.

Als der Blick des Spinnenmanns auf die eiserne Klinge fiel, …

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Christian HandelKommentieren